Leseprobe

Sie war einfach so da. Ohne Ankündigung. Keine Schritte, keine Geräusche, noch nicht mal ein Luftzug. Eigentlich bleibt Annäherung selten unbemerkt. Sie wirft Schatten voraus. Und eine Bewegung von der Tür bis zum Tisch wirft ein Spiegelbild. Doch all das blieb unbemerkt. Sie war einfach da. Hier, ein Tisch weiter im Café.

Der Cappuccino war schon kalt. Seine Gedanken verloren sich. In ihr, die jetzt gegenüber war. Die unbekannte Frau ist unerklärt und ungefragt zum Mittelpunkt seines Augenblicks geworden. Für die wenigen Minuten, die ihnen zusammen blieben.

Melinda war traurig.
Ihre Blicke abwesend.

Er begann, den verbliebenen Schaum aus der Tasse zu löffeln.

Heute war im Café ziemlich viel los. Eigentlich mochte er das nicht, aber jetzt in diesem Moment war es in Ordnung. Leute kamen, Leute gingen. Es war wie ein Fluss, der, ganz bei sich selbst, einfach fließt. Viel Hallo, viel Kuss links, Kuss rechts, viel Gedränge und Vielfalt. Das Chaos der Stimmen, die Schönheit der Menschen, das klappernde Geschirr.

Melinda nippte an ihrem Tee.

Gestern Nacht, der heftige Streit mit ihrem Mann. Sie hatte den Angriff präzise ausgeführt. Nur mit ihren Worten bewaffnet. Ein falscher Ton und die volle Absicht. So entstanden Melodien wie Dolch und Schwert. Ein Text, der sich ganz tief in die Seele bohrt. Sie hatte die Kontrolle verloren. Weil sie unglücklich war. Und jemanden suchte, dem sie die Schuld geben konnte.

Der Kellner brachte ihm einen neuen Cappuccino. Mit Milch. Sahne mochte er nicht. Schon länger nicht mehr. Das war früher einmal. Als er gerade erst begonnen hatte, sich mit dem Genuss von Kaffee anzufreunden.

Die Frau faszinierte ihn. Er wusste nicht warum. Die Gründe interessierten nicht. Er wusste nur, dass es so ist. Und das reichte aus.

Je mehr er sie gedanklich umkreiste, umso mehr faszinierte sie ihn. Woher sie wohl kam? Wie sie wohl lebte? Ob sie verheiratet war? Ob sie Kinder hatte? Sie wirkte irgendwie aufgezehrt. Abseits der Mitte mit der Sehnsucht nach dem Zentrum. Man konnte es förmlich spüren. Ihre Augen schimmerten im Licht. Er fragte sich, welche mentalen Belastungen, die ihren waren. Es gibt schließlich nur wenige Menschen, die keinen inneren Ballast mit sich tragen.

Zwei Tische weiter. Ein Ehepaar mittleren Alters. Sie trank einen Kaffee. Er trank ein Wasser. Sie sprachen kaum. Saßen parallel zueinander. Nicht in der Raummitte. Beobachteten gemeinsam die anderen Gäste. Er links, sie rechts. Beide schienen müde zu sein. Und damit waren sie in Harmonie zueinander und teilten im gleichen Licht den Augenblick.

Sie küssten sich. Ganz sanft. Sie hielten ein. Sie blickten sich in die Augen. Ihre Wangen streiften sich. Empfinden, Zittern, Berühren. Sie drückten sich ganz fest. Und ließen nicht mehr los. Tagtraum. Langsam schob er ihn zur Seite und kam wieder in die Gegenwart zurück. Der Schleier fiel und zu sehen war die Wirklichkeit. Überall um ihn herum

Er sah sie. Sie sah ihn.
Aber nicht wirklich, er war nur Statist und Kulisse.

Er verbrachte viel Zeit in diesen Cafés. Sie waren Insel, Bahnhof und Oase. Einfach auf einen Kaffee bleiben. Ein paar Zigaretten rauchen. Vielleicht eine Kleinigkeit essen. Ankommen und das Bisherige zurücklassen. Augen öffnen und die Umwelt wahrnehmen. Und die Menschen, die sich darin befinden. Die Zeit für sich nehmen. Man kann ein Buch lesen. Oder Zeitschriften. Oder etwas Arbeiten. Oder nur Sinnieren und Reflektieren und Innehalten.

Am Nachbartisch fiel ein Glas Wasser um.

Woran sie jetzt gerade wohl dachte? Ich kann es nur erahnen. Es ist auch nicht wichtig. Ihr Leben, ihre Tage, ihr Umfeld, ihr Träume, ihre Wünsche. Ich habe die ganze Palette des Universums zur Auswahl, denn ich bin frei und male mir mein eigenes Bild. Das ist meine Macht. Die ich nicht rechtfertigen muss. Die mir niemand streitig macht. Mein Weg, um Nähe in der Fremde zu finden. Etwas zu nehmen, wo eigentlich nichts ist. Es ist Illusion und Wirklichkeit. Es ist Lüge und Wahrheit. Wer fragt schon danach? Wer wird es je erfahren?

Es ist gleich vorbei. Melinda winkt dem Kellner.

Gelächter. Es kam von einer Gruppe junger Menschen. Freunde und Bekannte, die sich ganz belanglos und zufällig heute zusammen fanden. Es herrschte Frohmut und Leichtigkeit. Es wurde berichtet, es wurde erzählt, es wurde gescherzt, es wurde gelacht. Die Szene drängte sich nicht auf, sondern verblieb im Hintergrund.

Melinda bezahlte ihren Kaffee. Dem Kellner gab sie 30 Cent Trinkgeld. Sie sagte Danke. Der Kellner sagte, einen schönen Tag. Sie lächelte still und zurückhaltend.

Er zündete sich eine Zigarette an und konzentrierte sich. Sie packte ihre Sachen. Geldbeutel, Zigaretten, Handy zurück in die Tasche. Brille aufgesetzt. Ein letzter Blick aus dem Fenster. Sie seufzte. Im Streiflicht seiner Augen stand sie auf, durchquerte das Lokal, öffnete die Tür und ging raus. Im Fenster schimmerte sie noch ein paar Bilder lang. Und dann war sie weg.

Zurück bei sich selbst zündete er eine weitere Zigarette an. Winkte dem Kellner, zahlte, packte seine Dinge zusammen. Verzögerte den Genuss seiner Kaffeereste. Blickte im Café umher. Drückte seine Zigarette aus. Wurde von sanfter Melancholie ergriffen.

So verließ er das Café.
Frohen Mutes und sehr dankbar für dieses Geschenk.

Kurzgeschichte:
Zeit im Cafe